EuGH: AUS DER ARBEITSZEITRICHTLINIE FOLGT EINE STRIKTE PFLICHT ZUR ERFASSUNG SÄMTLICHER ARBEITSSTUNDEN ALLER MITARBEITER

I. Das Urteil

In einer jüngst ergangenen Entscheidung (RS C-55/18 “Federacion de Servicios de Comisiones OBERAS (ccoo)/Deutsche Bank”) hat sich der EuGH mit der Frage der präzisen Erfassung der Arbeitszeit auseinandergesetzt. Das Urteil verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Ergreifung einer Reihe von Maßnahmen zum effektiven Schutz der Mitarbeiter vor übermäßiger Arbeitsbelastung. Die konkreten Auswirkungen sind noch nicht genau absehbar – absehbar ist hingegen, dass sich aus der Entscheidung nicht unerhebliche Auswirkungen für die betriebliche Organisation ergeben werden. Zu der Frage, welche dies im einzelne sein könnten, geben wir im Folgenden einen ersten Diskussionsbeitrag:

Der EuGH hat (erneut) festgehalten, dass die festgelegte erlaubte Höchstarbeitszeit einen fundamentalen Aspekt der Sozialpolitik der EU darstellt und solcher Ausfluss nicht nur des Sekundärrechts (der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88), sondern auch der Grundrechtscharta, also des Primärrechts ist; Schutzzweck ist mit die grundrechtlich geschützte Position des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit am Arbeitsplatz. Wörtlich führt der EuGH mithin aus, “dass durch die Richtlinie 2003/88 Mindestvorschriften festgelegt werden sollen, die dazu bestimmt sind, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern […]Diese Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung auf der Ebene der Europäischen Union bezweckt, einen besseren Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer durch die Gewährung von – u. a. täglichen und wöchentlichen – Mindestruhezeiten und angemessenen Ruhepausen zu gewährleisten sowie eine Obergrenze für die wöchentliche Arbeitszeit vorzusehen”.

Auf dieser Grundlage hat der EuGH mithin klargestellt, dass es aus Gründen des effet utile der Richtlinie 2003/88 erforderlich ist, dass die Mitgliedstaaten den Arbeitgebern die verbindliche Pflicht auferlegen, ein objektive, verlässliches und zugängliches System zu schaffen, welches die Messung der täglichen Arbeitszeit eines jeden Mitarbeiters erlaubt.

Es obliegt nun den einzelnen Mitgliedstaaten das Urteil umzusetzen und die konkrete Ausgestaltung der Zeiterfassung vorzugeben.

II. Die Auswirkungen

Bekanntermaßen gibt es in Italien verschiedene Kategorien von Mitarbeitern, die entweder aus gesetzlichen Gründen (in Anwendung der der Öffnungsklauseln) oder aber de facto aus dem Schutzmechanismus der Arbeitszeitrichtlinie ausgenommen sind: Darunter fallen jedenfalls diejenigen Kategorien von Mitarbeitern, deren Arbeitsleistung aus tatsächlichen Gründen quantitativ nur schwer (oder jedenfalls mit erhöhtem Aufwand) zu erfassen ist (wenngleich hierfür in der Tat keinerlei durch die Richtlinie erlaubte Ausnahme vorliegt); erwähnt sei hier v.a. an die Erbringung der Arbeitsleistung nicht von einem betrieblichen Arbeitsplatz aus, sondern grundsätzlich von zu Hause (Homework) oder die verschiedenen Formen von Smartworking, die durch das Fehlen präziser örtlicher und zeitlicher Vorgaben zur Erbringung der Arbeitsleistung charakterisiert sind, während die (allein einzuhaltenden) qualitativen Vorgaben individuell zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber festgelegt werden. Während es aufgrund des nun ergangenen Urteils es unzweifelhaft unerlässlich erscheint, dass jedenfalls für die vorgenannten Kategorien von Mitarbeitern Mechanismen einzuführen sind, die eine präzise Erfassung der konkreten Arbeitszeit nicht nur erlauben, sondern auch erfordern, erscheint die Situation der leitenden Angestellten, für die derzeit aufgrund ausdrücklicher (und durch die Richtlinie erlaubter) Wahl des italienischen Gesetzgebers die Begrenzungen der Richtlinie keine Anwendung finden.

Auch wenn die Situation der leitenden Angestellten nicht ausdrücklich Gegenstand des Urteil war und diese mithin auch keine ausdrückliche Erwähnung in dem Urteil finden, könnte die gewählte Begründung mit ausdrücklichem Rückgriff auf die (selbstverständlich auch den Leitenden Angestellten zustehenden) Grundrechte ein Hinweis darauf sein, dass auch diesbezüglich ein gesetzgeberischer Eingriff in das System der Vertrauensarbeitszeit erforderlich sein könnte. So geht in der Diskussion oftmals unter, dass die Richtlinie zwar erlaubt die Leitenden Angestellten aus dem System der erlaubten Höchstarbeitszeit auszunehmen, aber nur unter der Voraussetzung, dass die „allgemeinen Grundsätze des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer” eingehalten werden (Art. 17 Abs. 1 der RL 2003/88); zusätzlich verpflichtet Art. 22 der RL die Mitgliedstaaten dazu sicherzustellen, “dass kein Arbeitgeber von einem Arbeitnehmer verlangt, (…) mehr als 48 Stunden innerhalb einer Siebentagezeitraums zu arbeiten ”. Zu diesen bereits in der Richtlinie selbst enthaltenen Beschränkungen der Ausnahme der Leitenden Angestellten kommt nun angesichts des Wortlautes der zitierten Entscheidung der primärrechtlich ausgeprägte Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz, der unabhängig von der bekleideten Position sämtlichen Mitarbeitern zusteht.

In jedem Fall wird es spannend bleiben, wie der italienische Gesetzgeber (aber auch die jeweiligen Gesetzgeber in den anderen Mitgliedstaaten) das Urteil konkret umsetzen werden. Unbestreitbar wird es jedenfalls zu erheblichen Eingriffen in die derzeitige betriebliche Praxis der Zeiterfassung kommen; nach Ansicht der Verfasser wird es jedenfalls schwer werden die vollständige Herausnahme der Leitenden Angestellten aus dem Schutzbereich der Arbeitszeitrichtlinie auch zukünftig noch zu begründen.

RA/Avv. Florian Buenger, LL.M. Avv. Linda Fedozzi